Gibt es einen digitalen Sozialismus?
Leonie Fischer
Zentral steht eine neue „Sharing Culture“, die sich, aufbauend auf den Ideen von Kevin Kellys „Digital Socialism“ (1), ebenso mit den Anfängen des Digitalen Zeitalters selbst verknüpfen lässt. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf der Frage nach dem Designer als Wanderer zwischen diesen beiden Welten, in seiner Rolle als Autor von sowohl analogen als auch digitalen Realitäten. Die Idee des freien Teilens von Informationen und Werkzeugen ist nicht neu, im Gegenteil: Im Amerika der 1960er Jahre entwickelte sich eine Bewegung, die sich in Form einer Gegenkultur zum Ziel gesetzt hatte, dem mündigen Bürger durch das Bereitstellen von gesammeltem, kollektivem Wissen zu mehr Selbstermächtigung zu verhelfen. Wissen sollte als Hilfe dienen, Werkzeuge (im weitesten Sinne) für individuelle Probleme aller Art selbst entwickeln und einsetzen zu können. Der Zugang zu diesem Weltbild des selbständigen, vor allem unabhängigen Machers sollte der Mehrheit der Bevölkerung ermöglicht werden. Einen wegweisenden Ansatz schuf Steward Brand, der mehrere Jahre lang in einem Truck nomadisch durch Amerika zog, bepackt mit Ideen, Informationen und Werkzeugen aller Art. Später entstand hieraus der „Whole Earth Catalog“ (2), der als katalogisierte Zusammenstellung von aktuellem, nützlichen Wissen regelmäßig publiziert wurde. Um in den Katalog aufgenommen werden zu können, musste jedes Objekt mindestens einer von sieben Kategorien entsprechen. Diese waren: Systeme verstehen, Landnutzung, Industrie und Handwerk, Nomadentum, Kommunikation, Gemeinschaft oder Lernen. Innerhalb dieser Kategorien wurde ein Objekt gewählt, das heisst, wenn es als Werkzeug oder zur Selbstermächtigung sinnvoll und leicht per Post zu versenden war, oder geringe Anschaffungskosten hatte. Ohne Zweifel: Als frei zugänglicher (enzyklopädischer) Index neuer, innovativer Werkzeuge und Ideen fungierte der „Whole Earth Catalog“ als wichtiger Vorbote einer Kultur, die sich erst mit dem Beginn des digitalen Zeitalters wirklich durchsetzen sollte, oder wie es Steve Jobs später formulierte: „It was sort of like Google in paperback form, 35 years before Google came along: it was idealistic, and overflowing with neat tools and great notions.“ (3) Als Editor und Mitherausgeber späterer Versionen des „Whole Earth Catalogs“ war es für Kevin Kelly ein nächster logischer Schritt, den Geist des Katalogs mit den neu gewonnenen Möglichkeiten des freien Internets weiter zu verbreiten. Dieser Schritt gelang mit seinem Projekt „Cool Tools“ (4), einer Website, die basierend auf dem Grundgedanken des „Whole Earth Catalogs“ eine Sammlung allgemein nützlicher Werkzeuge abbildete (wobei Kevin Kelly auch hier den Werkzeugbegriff sehr weit fasste). War die Interaktion mit dem Leser und dessen Einbindung in die Auswahl der veröffentlichten Objekte bereits beim „Whole Earth Catalog“ ein wichtiger Wert gewesen, ließ sich dieser im digitalen Rahmen einer Website sehr viel einfacher umsetzen. Die Auswahl der Werkzeuge auf der Seite „Cool Tools“ basiert daher hauptsächlich auf von unterschiedlichen Lesern getesteten und eingereichten Objekten – und genau hierin lässt sich der von Kevin Kelly geprägte Begriff „Digital Socialism“ erklären und deuten: „Digital Socialism“ bezeichnet den zunehmenden Trend einer neuen „Sharing- und Open-Source-Kultur“ im Internet.
Um jedoch aufzuzeigen, was einen „Digital Socialism“ tatsächlich ausmacht, fällt es zunächst leichter, zu definieren, was er nach Kelly eben nicht sein soll. Denn „Sozialismus“ ist als Begriff historisch stark vorbelastet, wodurch sich leicht Missverständnisse ergeben. Als Sozialismus wird im Allgemeinen ein politisches System bezeichnet, welches sich durch die radikale Gleichmachung des Individuums auszeichnet. Sozialismus wird daher assoziiert mit Planwirtschaft, Zensur und Gemeinschaftseigentum. Und dies ist nun unterschiedlich: Bedeutete „Sozialismus“ in der Vergangenheit mehr Staat und weniger persönliche Freiheit, ergibt sich aus Kevin Kellys „Digital Socialism“ ein Mehr an individueller Freiheit und gleichzeitig ein Profitieren aus Gemeinschaftsprojekten und Kollaboration. Hier lässt sich also zuerst eine grundlegende Unterscheidung der Begriffe und deren Motivation feststellen. So ist der politische „Sozialismus“ durch eine dogmatisch gleiche Verteilung aller Güter motiviert, dem digitalen Sozialismus – nach Kevin Kelly – liegt demgegenüber eine pragmatische Motivation des individuellen Fortschritts und Profits durch kollektives Zusammenwirken zu Grunde. Daraus ergibt sich ein System, innerhalb dessen die Akteure ihre eigene Arbeitskraft quasi freiwillig und kostenlos zur Verfügung stellen, um so weitere kostenlose „Mitarbeiter“ zu erhalten. Es entsteht also eine abstrakte Maschine des individuellen Interesses, welche durch unentgeltliche und freiwillige Arbeit jedes Mitglieds zum Laufen kommt.
Diese Art der Kollaboration entspricht in besonderer Art der Arbeitsweise des heutigen Kreativschaffenden. Der Designer versteht sich immer öfter als Wanderer zwischen den Welten des Digitalen und des Realen, zwischen dem Virtuellen und dem Haptischen. Diese „Wanderschaft“ entsteht durch das Verwischen der Grenzen von Digitalem und Analogen in der Gestaltung. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach der Übersetzung von digitalem Schaffen und Entwerfen zurück ins Analoge, ins Physische. Und tatsächlich: Zusehends ergibt sich bei digital entworfenen Designs ein Konflikt an der Pforte zur analogen Welt, der Produktion. 3D-Drucker, CNC-Fräsen und viele weitere neue Fertigungswerkzeuge und Methoden versuchen, diesen Konflikt zu beseitigen und stoßen dabei immer an neue Grenzen. Tatsächlich ist es die Materialität an sich, welche unbeachtet in der Welt des digitalen Entwerfens dann im Analogen plötzlich zum existenziellen Problem wird. Im Übersetzungsprozess der digitalen Entwürfe in ein analoges Objekt werden die digitalen Dinge oft unbewusst ihrer Identität beraubt. Was entsteht, sind ehemals digitale Objekte, welche gewissermassen „tot zur Welt gekommen sind“ und nur noch eine Ahnung ihrer Herkunft ausstrahlen. Vage Erinnerungen stecken dann in den neuen digitalen Formen, welche, nachdem sie einer radikalen Übersetzung ins Analog-Machbare unterzogen wurden, in unserer Welt der Dinge ankommen. Ein wichtiger Problemfaktor geht von der Arbeitsweise des Designers selbst aus und nicht etwa auf die vielerorts zitierten Faktoren von Ökonomie und Industrie. Dieser Arbeitsweise liegt eine grundsätzliche Fehlbenutzung der Werkzeuge des digitalen Entwerfens zu Grunde: Geometrische Grundformen werden in CAD-Programmen aufgebaut und mit wenigen weiteren Befehlen zu Objekten geformt, die zwar aufgrund ihrer Grundstruktur eindeutig der Welt des Analogen beziehungsweise industriellen Fertigens zugeschrieben werden können, jedoch eine digitale Oberfläche von scheinbar unbekümmerten Überblendungen und Verrundungen aufweisen. So geschieht es, dass innerhalb einer solchen oberflächlichen Auseinandersetzung mit einschlägigen Programmen, die digital gestalteten Objekte um uns herum, ähnlich wie industriell gefertigte Objekte, auf merkwürdige Art und Weise durchschaubar und herstellungstechnisch nachvollziehbar werden. Während dieses Phänomen jedoch bei industriell gefertigten Produkten ein Hauptmerkmal bildet und Identität schafft, brüstet sich die digitale Formgebung regelmäßig mit der Möglichkeit, jede erdenkliche Form (scheinbar mühelos) erschaffen zu können. Aus dieser Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung der digitalen Gestaltung, zwischen Möglichkeit und Fähigkeit, entsteht eine große Enttäuschung und Ernüchterung.
Wie bereits Mario Carpo in seinem Essay „The Alphabet and the Algorithm“ (5) richtigerweise feststellt, lässt sich dieser Zustand der Enttäuschung auch auf die Fehlbenutzung von neuen Fertigungstechniken wie dem 3D-Drucker zurückführen. Designer und „Maker“ weltweit schwimmen auf einer anhaltenden Welle der Euphorie, was dazu führt, dass der Drucker oft in Bezug auf Materialgerechtigkeit und technologischen Potenzialen falsch eingesetzt wird. Anstatt eine Kiste mit vier rechten Winkeln aus Brettern zusammenzusetzen, wird diese in CAD aufgebaut und gedruckt. Bei einer solchen Anwendung ist nicht nur das Verhältnis von gestalterischem Mehrwert zur Ökobilanz fatal verschoben, sondern auch das Ausmaß des Enttäuschungspotenzials. Man kann argumentieren, dass das Drucken von Bauteilen für den Formenbau ebenso eine Fehlbenutzung wäre, obwohl sich dadurch ein deutlicher Zeitgewinn schaffen lässt. Das eigentliche Missverständnis zeigt sich jedoch im aufkommenden Trend, den 3D-Drucker als Objekt der empirischen Materialforschung zu missbrauchen und so seine Fehlerhaftigkeit und Limitationen zur eigentlichen Charakteristik zu erheben, was wiederum eine vermeintliche Spielwiese für Bastler, Designer und Erfinder jeder Art bildet.
Die Absurdität der Situation wird jedoch im Vergleich mit einem herkömmlichen Papierdrucker schnell offensichtlich. Es ist die Funktion eines Papierdruckers, individuelle Inhalte innerhalb des Rahmens eines standardisierten Druckformats auszugeben. Ebenso ist es die Funktion jedes 3D-Druckers, individuelle Daten innerhalb der standardisierten Maße der Druckplatte auszugeben. Ganz im Gegensatz zum Papierdrucker wird die Funktion von standardisierter Individualität im Falle des 3D-Druckers durch seine Fehlerhaftigkeit verklärt. Bei einem vergleichbaren Entwicklungsgrad wie bei einem Papierdrucker, wäre der 3D-Drucker lange nicht mehr Spielzeug der Erfinder und Bastler, sondern ein Werkzeug zur kapitalistischen Aneignung einer vermeintlichen Individualisierbarkeit zur Generierung von Wachstum. Betrachtet man allerdings die Entwicklung des „Digital Socialism“, um nochmals Kevin Kelly zu bemühen, entsteht innerhalb der digitalen Welt des Internets leicht ein ganz anderes Bild.
Am Beispiel von Plattformen wie Craigslist oder Wikipedia lassen sich die Prozesse des „digitalen Sozialismus“ einfach nachvollziehen. Menschen schaffen gemeinsam und generieren vollkommen gleichberechtigt eine Reihe von kostenlosen Informationsplattformen, Archiven, Nachrichtenagenturen etc. und bieten damit nicht nur eine Alternative zu den Angeboten des freien Marktes, sondern auch zu steuerfinanzierten Regierungsprogrammen. Im Gegensatz zu diesen sind die Seiten der „Internet-Sozialisten“ in einem ständigen Wandel begriffen und sehr anpassungsfähig. Kevin Kelly erkennt jedoch innerhalb dieser freien Kooperationsprojekte zugleich auch hierarchische Strukturen, womit ein weiterer politisch vorbelasteter Begriff in die Debatte eingeführt wird. Als unterstes Glied von solchen Kollaborationsprojekten versteht Kevin Kelly zunächst das Teilen. Jedoch muss auch der Begriff des Teilens innerhalb dieses Kontexts neu definiert werden. Seit jeher gilt Teilen als wichtiger moralischer Wert, das heisst Selbstlosigkeit und Großzügigkeit wird durch das Teilen von Dingen impliziert. Im Kontext des digitalen Sozialismus wird das Teilen jedoch zum Werkzeug für den eigenen Fortschritt. Nun könnte man meinen, dass diese Unterscheidung einmal mehr die digitale von der analogen Welt trennt. Tatsächlich ist jedoch zu beobachten, dass gerade auf der untersten Ebene der digital-sozialistischen Hierarchie genau jene Grenzen dieser beider Welten stark verwischen.
In unserem Alltag definieren wir uns immer mehr durch teilbare Dinge. Teilbar ist alles, was sich in sozialen Netzwerken im Internet verbreiten lässt, so wie Fotos, Videos, „Memes“, Links zu Inhalten etc. Teilen wird hier also zum Akt der Selbstprofilierung und der Darstellung von der analogen in die digitale Welt hineingetragen. Innerhalb des Internets entstehen jedoch teilweise digitale Plattformen, die das Teilen als Wert in der analogen Welt organisieren. Ein Beispiel hierfür ist zum Beispiel Craigslist (6), eine amerikanische Seite, auf die Benutzer unterschiedliche Objekte und Dienstleistungen einpflegen können. Kostenlos und frei von Werbung bietet die Seite so einen guten Nährboden für die Verknüpfung von Menschen mit gleichen Interessensgebieten.
Trotzdem lassen sich in der Kultur des Digitalen keinerlei Merkmale von Sozialismus erkennen. Viel eher ist das, was Kevin Kelly als Sozialismus bezeichnet, charakteristisch für ein autoritäres kommunistisches System. Sozialismus bedeutet hier vor allem die gerechte Umverteilung von Wohlstand und das Vorhandensein von sozialen Systemen innerhalb des politischen Systems. Die Welt des Digitalen kann jedoch weder Züge von Umverteilung noch sozialen Systemen aufweisen, da es in sich ein stark individualistisches System ist, ohne jegliche politischen Anteile. Das Internet kann daher höchstens als indirektes Werkzeug zur Umverteilung verstanden werden. Dieses Potenzial kann jedoch, durch das Fehlen jeglicher politischer Struktur im Internet, wiederum nur von einzelnen Individuen ausgeschöpft werden. Genauso kann das Internet zum kapitalistischen Werkzeug instrumentalisiert werden, und so gerade durch seine Strukturlosigkeit einer gerechten Umverteilung entgegenwirken.
Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ (7) einen fortschreitenden Paradigmenwechsel unserer Gesellschaft, welche von einem Übermaß an Positivität beherrscht ist. In einer Gesellschaft, in der es keine übergeordneten Feinde, keine Unterdrücker mehr gibt, haben wir keine Angst mehr vor dem Fremden, sondern vor den Feinden des Individuums, wie Infarkte, Depressionen oder Burnout. Die Leistungsgesellschaft, so Han, habe Individuen geschaffen, die besessen von einem Übermaß an Positivität in bester Laune ihrer eigenen Selbstoptimierung hinterherlaufen, sich an sich selbst abarbeiten. War es früher eine übergeordnete Autorität, die uns „nine to five“ zum Arbeiten zwang, sind es heute wir, die sich unter dem Anspruch der Selbstverwirklichung durch den Beruf zum Arbeiten bringen. Der Kapitalismus hat es geschafft, uns zu vermitteln, dass es Freiheit bedeutet, sich selbst auszubeuten. In Anbetracht dessen ist es nicht schwer, eine Brücke zur digitalen Gesellschaft des vermeintlichen „digitalen Sozialismus“ zu schlagen. Mit anderen Worten: In einer Gesellschaft der unbezahlten Praktika und des Freelancertums bilden wir uns ein, durch kostenlose Arbeit an Projekten im Internet, einen individuellen Profit schlagen zu können. Tatsächlich ordnen wir so auch unsere Freizeitbeschäftigung in das kapitalistische System ein, während die Grenzen von Freizeit und Arbeit, von Eigenem und Fremdem immer mehr verschwimmen. Abschliessend muss also festgestellt werden, dass das, was mit Steward Brand als Gegenkultur zur Selbstermächtigung begann, nun im Begriff ist, sich vom kapitalistischen System der Leistungsgesellschaft instrumentalisieren zu lassen und uns so glauben zu lassen, dass Selbstermächtigung und individuelle Freiheit bedeutet, dem System Arbeit unentgeltlich abzunehmen. Daher muss Kevin Kellys „Digital Socialism“ neu eingeordnet werden. Was Kelly beschreibt ist kein Sozialismus, sondern viel eher eine organisch wachsende Individualkultur, innerhalb derer Menschen mit Leidenschaft an selbstgesetzten Zielen arbeiten und andere Teil davon sein lassen wollen. Es ist also an der Zeit, unsere kollektiven Modelle – und zuvorderst das digitale Teilen – zu überdenken und einen vielleicht politisch-strukturellen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen eine solche digitale Kultur der offenen Kollaboration zugunsten von Innovation und globalen Vernetzung von Gleichgesinnten auf Dauer florieren und wachsen kann – ohne vom globalen ökonomischen Verwertungsdruck instrumentalisiert zu werden.