Algorithmen als Entscheidungsträger
Luise Münzner
Die Ausweitung digitaler Infrastrukturen und Anwendungen steigt gegenwärtig an. Wir sind im digitalen Zeitalter angekommen. An einigen Stellen zeigen sich Symptome in Form von Folgen der Errungenschaften unseres Wechsels in digitale Lebenswelten, an anderen Stellen sind sie maximal zu erahnen und werden engagiert diskutiert. Eine große Rolle in der digitalen Transformation spielen dabei Algorithmen. Sie sind die Wirkungsmächte des Digitalen, die unseren Alltag und die ganze Welt mit unsichtbarer Hand bestimmen zu scheinen.
Zunächst ist es wichtig, auf die ursprüngliche Bedeutung von Algorithmen zurückzukommen und zu klären, was ein Algorithmus ist. Es gibt einige Voraussetzungen, die für einen Algorithmus erfüllt sein müssen - bspw. die Finitheit (die Beschreibung des Algorithmus besitzt eine endliche Länge), die Definiertheit (alle Schritte müssen eindeutig beschrieben sein) und die Effektivität bzw. Ausführbarkeit (alle Elemente müssen direkt ausführbar sein). Ein Algorithmus ist also eine Anleitung mit einer präzisen Beschreibung, wie etwas getan wird. Ein Beispiel für einen analogen Algorithmus wäre demnach ein Kochrezept. Im digitalen Kontext bedeutet ein Algorithmus eine Handlungsanweisung, die einen Vorgang oder ein Programm durch einen Code beschreibt.
Im Kontext des Digitalen sind Algorithmen unabdingbar geworden. Sie funktionieren als automatisierte Entscheidungsverfahren, um aus wuchernden Informations- und Datenmassen eine Essenz an Informationen zu gewinnen, die im Anschluss für uns Menschen überhaupt erst lesbar und verwertbar werden. Verwertbar für eine Vielzahl an Prozessen, die über dem Cyberspace hinaus in unser analoges Leben eingreifen und unsere Wirklichkeit formieren. Und genau an dieser Stelle liegt das Problem: Algorithmen sind zu einer Art fundamentalistischer Grundsatztexte geworden, die uns ein Regelwerk aufzwingen, welches anders als unsere bestehende Gesetzgebung nicht aus gemeinschaftlichen, demokratischen Ethikvorstellungen entwickelt wurde, sondern von einzelnen Programmierenden. Diese transportieren durch ihr Programm gleichzeitig ihr eigenes Modell ihres Wertesystems und ihr Verständnis von Ethik oder eben nicht vorhandenes Verständnis von Ethik. Sie coden für Unternehmen und Institute, die eventuell wenig am Gemeinschaftswesen interessiert sind, sondern einzig ihre eigenen Interessen verfolgen. So werden Algorithmen eben auch konkret dafür genutzt, unser Handeln zu kontrollieren, es auszuwerten und daraus eine Prognose unseres Handelns zu generieren. Diese Handlungsprognosen finden dabei vielfältige Anwendungen von Predictive Policing bis hin zum Consumer Targeting im E-Commerce Bereich. Sie basieren alle auf demselben Prinzip: Aus Clicks, Interaktionen und räumlichen Bewegungen werden erschreckend genau Interessen- und Persönlichkeitsprofile erstellt. Algorithmen machen uns so gewissermaßen zu Objekte. Eines der drastischsten Beispiele für Psychometrie durch Big Data und Algorithmen liefert die Arbeit des Psychologen Michael Kosinski. Anhand preisgegebener Daten auf Facebook, wie Likes, Sharings oder Postings, Angaben über Wohnort, Alter und Geschlecht werden Persönlichkeitsprofile erstellt, die sogar die Kenntnisse des jahrelangen Partners übertreffen: „Intelligenz, Religionszugehörigkeit, Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum lassen sich berechnen. Sogar, ob die Eltern einer Person bis zu deren 21. Lebensjahr zusammengeblieben sind oder nicht, lässt sich anhand der Daten ablesen.“ (1) Das dramatische daran ist jedoch nicht nur die verlorene Privatsphäre, sondern der Missbrauch der Ergebnisse, die zu gezielter Manipulation nicht nur im Marketingbereich in ökonomischen Kontexten sondern auch in politischen Kontexten, wie im Wahlkampf genutzt werden. So dienten die Forschungen des Psychologen der Wahl-Management-Agentur Strategic Communications Laboratories, als Grundlage zur gezielte psychologischen Manipulation im Wahlkampf, mit deren Methoden auch Trump arbeitete. Kosinski hat seine wissenschaftlichen Arbeiten mittlerweile mit einer Warnung versehen. Mit seinen Methoden könnte das Wohlergehen, die Freiheit oder sogar das Leben von Menschen bedroht werden. Ein anderes Beispiel ist das Start-Up Volometrix aus Seattle, welches sich auf „Organizational Analytics“ spezialisiert, was dabei nicht, wie betont wird, im Sinne einer Überwachung gemeint ist, sondern hinsichtlich der Optimierung von Abläufen und Aufgabenverteilung dienen soll. Es wird ermittelt, womit und mit wem die Angestellten eines Unternehmens ihre Zeit verbringen. Dabei werden beispielsweise ihre firmeninternen E-Mails und Mitarbeiterkalender analysiert. Selbst wenn nicht eine Überwachung und Kontrolle der Zweck einer algorithmischen Datenauswertung sein soll, sondern lediglich die Optimierung unserer (Arbeits-)Abläufe, so greifen sie doch massiv in unsere Privatsphäre ein. Außerdem findet durch das effiziente Durchplanen unseres Alltags ein Verlust statt, der sich nur erahnen lässt: Zufällige Erlebnisse und Begegnungen aus denen sich unvorhersehbare Erfahrungen ergeben, gehen zunehmend verloren: Durch Algorithmen werden alle Erfahrungen geplant.
Doch warum zeigt unsere Gesellschaft so wenig Widerstand angesichts dieser kommerziellen und sicherheitsstaatlichen Kontrollen? Worin könnte sich die Entfremdung genau begründen, die sich in einem fehlenden Betroffenheitsgefühl und damit auch in kaum Widerstand gegen diese bedenklichen politischen und ökonomischen Praktiken äußert? Dafür gibt es möglicherweise mehrere Erklärungen. Zum einen scheint hier die „Shifting Baseline“- Theorie eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Unsere Wahrnehmung über das vor einiger Zeit noch Undenkbare verschiebt sich dahingehend, dass wir uns Stück für Stück an die neuen Umstände gewöhnen. Wurde die Ausweitung der öffentlichen Überwachung durch Kameras noch vor einigen Jahren kritisiert, so werden heute eine Vielzahl an Informationen freiwillig preisgegeben und das Ausbreiten ganzer privater Lebensläufe für das ganze World Wide Web wie selbstverständlich sichtbar. Begründet sich das fehlende Betroffenheitsgefühl neben den verschobenen Wertvorstellungen aber vielleicht auch in einer Entfremdung, die durch die Digitalisierung stattgefunden hat? Die homogenisierte Weltkultur wie Rifkin sie beispielsweise beschreibt, dünnt unser tatsächliches kulturelles Leben aus und transformiert erlebte Erfahrungen ins Digitale und macht sie als Handelsware nutzbar (2). Das Verhalten der Menschen ändert sich dadurch zu einer Normotic Personality, wie der Psychoanalytiker Christopher Bollas beschreibt (3). Nach Bollas strebt die normotische Persönlichkeit nach einem möglichst gesellschaftskonformen Verhalten und objektiviert sich, um selbst ein Objekt in einer Welt von Objekten zu werden. Dadurch wird zum einen ihre Verwertbarkeit durch Algorithmen beschleunigt, im Umkehrschluss aber auch von diesen befeuert. Es gibt allerdings auch einige Gegenentwürfe und Widerstand. Im Kleinen und eher als symbolischer Widerstand ist hier die Website „Ruin my search history“ zu nennen. (4) Diese Seite macht es sich zur Aufgabe, den individuell zugeschnittenen Google-Algorithmus gehörig durcheinanderzubringen und peinliche bis hin zu kriminellen Suchanfragen in den Suchverlauf einzupflegen. Leider wird dieser Ansatzpunkt des widerständigen Handelns auf Dauer auch nicht aufgehen, da die generierten Unregelmäßigkeiten wahrscheinlich nach und nach von den Algorithmen erkannt und berücksichtigt werden würden. Es gibt jedoch noch tiefgängigere Debatten. Es sind auch nicht immer nur negative Entscheidungen und Absichten, die von Algorithmen ausgelöst werden. Es wird bereits Forschung betrieben, um Algorithmen mit ethischen Werten zu ergänzen. So arbeiten Philosophen und Informatiker am Imperal College in London beispielweise an einem „Fair Play Algorithms“.
Überhaupt stehen die Debatten noch am Anfang und es gibt noch Zeit und Raum, die Entwicklungen in eine positive, humanistischere Richtung zu leiten. Die Voraussetzung dafür ist, dass mehr Menschen über Technik und Digitalität aufgeklärt werden und der Diskurs noch breiter stattfindet als bisher. Denn, dass wenige Konzerne wie Google und Facebook eine monopolistische Marktposition einnehmen und die Entscheidungsmacht bei einigen wenigen Programmieren liegt, ist keine Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung im Digitalen Wandel. In einigen Ländern steht Coding bereits auf den Lehrplänen und ist fester Bestandteil des Unterrichts – also beste Voraussetzungen, um mehr Menschen zu beteiligen.
Und worauf soll der Designer sich nun besinnen? „In der Moderne gibt es keine unpolitische Gestaltung. Auch wer sich ins Private zurückzieht, handelt politisch, denn er verrät seine politische Verantwortung als souverän und überlässt die Kontrolle den Machtgierigen“. (3) Besonders jetzt gilt für Designer einen breiten Designbegriff zu vertreten und sich seiner Wirkungsmöglichkeiten bewusst zu werden. Design befindet sich in den Lebenswelten unserer Mitmenschen und hat das Vermögen Ästhetik und Technologie zu vereinen, näher zu bringen und begreifbarer zu machen. Es geht hierbei nicht darum, den Mitmenschen restlos über einen technischen Sachverhalt, wie z.B. die algorithmische Datenverarbeitung aufzuklären, sondern überhaupt erst zu sensibilisieren und damit Zugang zu schaffen. Wichtig ist dabei, die intensive Auseinandersetzung mit Technik durch den Designer selbst, als auch die Beteiligung von Experten. Durch die Analyse von Daten lassen sich keine alternativen Lebensmodelle, positivere Lebensentwürfe oder bessere Objekte kreieren, die neue Denkräume eröffnen. Dafür ist immer noch ein empathisches Denken erforderlich, zu dem jeder gute Gestalter fähig sein sollte. Unter dem Begriff Lebensmodelle werden dabei nicht nur komplexe Systeme verstanden, sondern ebenfalls Artefakte, die unseren Alltag verändern. Denn auch ihnen kann eine unheimliche Intelligenz innewohnen, die unseren Alltag bereichert. Ein weiterer wichtiger Untersuchungspunkt für Designer liegt in dem sich wandelndem Verhältnis von erlebter Erfahrung und Technik und der Art und Weise wie Menschen in die Technik involviert sind. Wie gestalten sich die Schnittstellen zwischen Wirklichkeit und Technik, wie wirkt das Digitale in unseren Alltag und umgekehrt? Wie werden durch technische Systeme sinnliche Erfahrungen geschaffen? Designer sollten kritisch hinterfragen, an welchen Stellen eine Digitalisierung notwendig und angebracht ist und an welchen Stellen alternative Ideen aufgezeigt werden sollten. Die Debatte ist noch nicht abgeschlossen und es gilt gerade jetzt bei der Gestaltung des Digitalen Wandels teilzuhaben, sich einzubringen und auch ein gewisses Maß an Ungehorsamkeit mitzubringen.