Crowdsourcing in zwei Szenen

Sara Fuchs

TEIL 1 - EINE RETROSPEKTIVE

 

You are now about to witness the strength of street knowledge

1979 - New York - „I said a hip hop the hippie the hippie to the hip hip hop and you don’t stop.“. Dieser Track der Sugarhill Gang, war die erste Aufnahme des damals neuen Genres Rap, die von der Musikindustrie ernst genommen und als potentiell kommerziell erfolgreich erachtet wurde. Der Song trägt den Namen Rapper’s Delight und ist repräsentativ für alles, was danach kommen sollte. Die Entstehung der gesamten Hiphop-Industrie kann einem Prozess untergeordnet werden, welcher erst 27 Jahre später vom amerikanischen Journalisten Jeff Howe mit dem Neologismus Crowdsourcing betitelt wurde. Im Folgenden wird die Funktionsweise des Prinzips, sowie seine Stärken und Schwächen erörtert. Dies geschieht anhand von Parallelen zur Entstehung der Rapmusik, sowie ganz allgemein zur gesellschaftlichen Struktur eines Ghettos, welches sich von der, des Crowdsourcings vielleicht weniger unterscheidet, als man zuerst annehmen würde.

 

Zurück zu den Wurzeln

Wie bei allen Musikrichtungen, liegen auch die Wurzeln der Rapmusik historisch weit zurück. Wichtig zu wissen ist allerdings nur Eines: der rhythmische Sprechgesang wurde stets von einer Gruppe betrieben, die entweder mit- oder gegeneinander durch die Musik und die Lyrik kommunizierte. Diese Gruppe ist im folgenden Text als Crowd beschrieben. Die Herkunft des Genres ist also keineswegs kommerziell begründet. Es gab keinen Marketingchef am Mahagoni-Schreibtisch, der beschloss, nun einmal der in Ghettos lebenden Unterschicht Gehör zu verleihen. Nein, es war die Crowd selbst, die sich über ihre missliche Lage versuchte ausdrückte. Plattenlabels nutzen diese Idee dann für sich und schufen daraus eine geldbringenden Industrie. Jeff Howe definiert das Prinzip Crowdsourcing wie folgt: Es handelt sich um eine Leistung, die traditionell von einem Angestellte erledigt wird, im Fall des Crowdsourcings allerdings an eine große, undefinierte Gruppe herausgegeben wird. Dies passiert in Form einer öffentlichen Ausschreibung. Im anfänglich beschriebenen Beispiel, entfällt dieser konkrete Aufruf an die Öffentlichkeit zwar, das Prinzip ist trotzdem dasselbe, da der Konsument nicht mehr rein passiv agiert, sondern zum aktiven Prosumer wird. Die Idee und auch die Umsetzung des damals neuen Genres der Rapmusik ist komplett der Crowd zu verdanken.

 

Ghetto Internet 

In Zeiten des Internets, welches das Crowdsourcing in heutiger Form erst ermöglicht, hat sich dieser Ablauf komplett verändert. Die Reichweite der Aufgaben ist deutlich größer geworden und der Innovationsprozess der Unternehmen hat sich merklich geöffnet. Ein globaleres Denken und Handeln ist möglich geworden. Nichtsdestotrotz, ist das World Wide Web in seiner Funktionsweise und seinen Strukturen mit den damaligen Ghettos in New York zu vergleichen. Denn nur weil sich die Technik und damit auch die Möglichkeiten weiterentwickelt haben, heißt das nicht, dass das menschliche Handeln dies auch getan hat.

 

Hierarchie der Strasse 

Das Überleben des Stärkeren ist ein altbekanntes Prinzip. Da man alleine auf der Straße wenige Chancen hat, bilden sich in der Gesellschaft des Ghettos Crews oder Gangs . Sie verfolgen dieselben Intentionen und treten in der Öffentlichkeit als zusammengehörige Gruppe auf. Diese Strukturen finden sich auch beim Crowdsourcing in Form von Plattformen mit verschiedenen Fach- und Interessengebieten. InnoCentive ist beispielsweise eine amerikanisch Plattform, die sich auf das Expertenwissen aus naturwissenschaftlichen Bereichen spezialisiert hat. Dennoch agiert die Crew, die im Kontext des Internets als Community bezeichnet wird, interdisziplinär miteinander, da sich beispielsweise ein Physiker und ein Ingenieure in ihren Ansätzen ergänzen und somit eine gemeinsame Lösung finden können. Bei diesem doch sehr sinnvollen und vor allem nachhaltigen Phänomen, spricht man von Schwarmintelligenz oder auch kollektiver Intelligenz, die durch das Internet so einfach ist, wie nie zuvor. Exkurs denken zur Optimierung der Prozesse ist gefordert. Ähnlich wie bei einer Crew entsteht also ein Gemeinsinn, welcher für das Unternehmen, das die Aufgabe stellt, Effizienz bedeutet. Es entsteht allerdings auch ein gewisses Konfliktpotential, da die Aufgabenbereiche verschwimmen. Es muss im Voraus klar geregelt werden, wem welcher Teilbereich zugeordnet wird. Um auch an dieser Stelle wieder eine Analogie zum Ghetto ziehen zu können, sind rein territorial die verschiedenen Hoods der Crews strikt aufgeteilt. Im Kontext der Plattform InnoCentive ist eine zu lösende Aufgaben lukrativ als Challenge ausgeschrieben. In der Psychologie gibt es, beispielsweise in Leistungssituationen des Sports, zwei Möglichkeiten des Antriebs. Die eine Variante ist genau diese Herausforderung, welche an das Anstreben von positiven Konsequenzen gekoppelt ist, die andere die Bedrohung, welche gegensätzlich fungiert. Ein schlauer Zug also, den Aufgaben durch die Benennung Challenge einen gewissen Reiz zu geben. Die sogenannten Seeker, zum Beispiel ein Unternehmen, stellen diese Challenges für jedermann zugänglich auf die Website der Plattform. Meist sind die Aufgaben zeitlich begrenzt und erfordern keinen übermäßig großen Zeitaufwand. Im Falle der Entstehung der Rapmusik, ist es in diesem konkreten Beispiel schwieriger, eine Parallele zu ziehen, da die konkrete Phase der Aufgabenstellung komplett wegfällt. Die Motivation bestand viel eher darin, sich Gehör zu verschaffen und vielleicht sogar eine Veränderung durch Außenwirkung zu erzielen. Außerdem wurde Rap von der Crowd selbst anfangs nicht als potentielle Einnahmequelle gesehen, sondern vielmehr als Hobby und als Zeitvertreib. Wie anfangs erwähnt, funktionierte der Prozess eigentlich genau andersherum, da die Musikindustrie sich eine Idee aus dem Pool der Crowd zu Nutzen machte. Hier ist die Plattform iStock als Beispiel anzuführen. Es handelt sich dabei um die zweitgrößte Bildagentur weltweit, die Crowdsourcing als bereits automatisierte Variante betreibt. Ähnlich wie bei dem soeben angeführten Szenario bezüglich der Rapmusik, produziert die Crowd zunächst undefinierte Daten, hier in Form von Fotografien, Illustrationen und Videos. Die Plattform ordnet diese dann, je nach Motiv, Überbegriffen zu. Daraufhin kann der Seeker, ähnlich wie wir es von Google kennen, einen Schlagwort in die Suchleiste eingeben und bekommt sofort ein Resultat, wie etwa ein Bild von einer Person mit einem Ghettoblaster. Es findet also auch hier keine direkte Interaktion zwischen Seeker und Solver mehr statt.

 

Fuck the Police

Die Motivation eines einzelnen Solvers, also Problemlösenden ist oft monetär begründet. Ähnlich wie bei einem Drogendeal auf der Straße eines Ghettos, lockt das schnelle Geld. Manchmal ist aber auch das Ansehen, welches einem durch die Lösung des Problems zukommt, von Bedeutung. Ähnlich, wie sich ein Jugendlicher mit kleinen Jobs erst einmal die Anerkennung seines Dealers und damit auch seiner Crew in der Hierarchie des Ghettos erarbeiten muss, steigt die Autorität eines Solvers in der Community mit jeder gelösten Aufgabe. Auch die Bedingungen sind im Internet wieder dieselben, wie auf der Straße: eine fixe Belohnung, keine Steuern und die Aussicht auf weitere Jobs. Dies ist bedenklich, wenn man sich vor Augen hält, dass sich hier ein eigenes Wirtschaftssystem frei vom Staat und dem Gesetz entwickelt. Denn auch die Haftung ist nicht geregelt, da die Autorschaft mit dem Hochladen der Lösung an das Unternehmen abgegeben wird.

 

Das Neuland muss zum Festland werden

In dieser Retrospektive wurde nun das Prinzip Crowdsourcing und auch seine Stärken und Schwächen vorgestellt. Sehr nachhaltigen Punkten, wie etwa der Interdisziplinarität und der damit einhergehenden Wissensweitergabe der verschiedenen Kompetenzen und Fachbereichen untereinander, wurden angesprochen. Aber auch das simple Argument der Effizienz in Hinsicht auf Zeit, Geld, Energie und Ressourcen, ist gegeben. Dagegen spricht ganz klar der Verlust der Autorschaft und das damit aufkommende Problem der Haftung. Außerdem ist zu hinterfragen, wie lange es noch dauert, um auch solche Jobs als tatsächliche Arbeit anzusehen und Steuern darauf zu erheben. Wir stehen an der Schwelle einer analogen Welt, die ins Digitale übergeht. Die Frage ist nur, wann es passieren wird, wann Gesetze geregelt werden und wir begreifen müssen, dass das Internet nicht mehr als Neuland anzusehen ist. Doch wie sich Crowdsourcing in der Zukunft entwickelt und wie die Macht des Prinzips verwendet wird, bleibt offen.

 

TEIL 2 - EINE UTOPIE DYSTOPIE

 

Taylorismus als Chance?

Montag, 05:00 Uhr UTC+1. Der Wecker klingelt schrill, so wie jeden Morgen. Es gibt einfach Dinge, die sich nie ändern werden. Ihre Augenlider sind schwer, als sie sich aus dem Bett quält, doch ihr ist bewusst, dass sie jetzt aufstehen muss, um eine Chance auf die guten Challenges zu bekommen, ehe auch die Amerikaner ihren Tag beginnen. Bevor ihr Blick auf ihr Smartphone fällt, schaut sie aus dem Fenster ihres Einzimmerappartements mit kleinem Balkon auf das Meer. Es ist stürmisch und der Sand am Strand sieht nass aus. Es muss die Nacht über geregnet haben. Sie mag Mallorca. Schon als sie noch ein Kind war, wollten ihre Eltern hier her auswandern, haben sich den Schritt aber aufgrund der Sprachbarriere nicht getraut. Als sie sich dann vor fünf Jahren entschlossen hatten, es gemeinsam zu wagen, da es einem die Jobs heute mehr als ermöglichen, sind sie gemeinsam in den ehemalige Hotel Diamant Komplex gezogen. Seitdem leben sie in unmittelbarer Nähe zum Strand und haben sogar einen Pool und freies WLAN in der Miete inklusive. Die Nachbarn, ebenfalls aus Deutschland hierher ausgewandert, treffen sie manchmal auf der einen oder anderen Plattform. Es handelt sich um ein Ehepaar, Mitte siebzig, beide freischaffende Ingenieure, die gemeinsam mit ihrem Sohn, einem auf InnoCentive sehr erfolgreichen Informatiker, laut IP Adresse auf demselben Stockwerk wohnen. Ihre Profile klingen zwar wortkarg, aber nett. Ihr Smartphone brummt und reißt sie aus ihren abschweifenden Gedanken. Eine neue Challenge, die auf ihre Qualifikationen passt, wurde hochgeladen.

 

Premium Challenge 

Art Director/in (m/w) im Bereich Grafik Design / Digital Design

Tags: Grafik Design, Design, Digital Design, Coding, PR

Prämie: $ 2.500 USD

Deadline: TT/MM/JJJJ - SS:MM UTC+1

Aktive Problemlöser: (gesehen von) 143

Hochgeladen: TT/MM/JJJJ - 05:07 UTC+1

Quelle: InnoCreative CHALLENGE CODE 1234567

 

Challenge im Überblick:

Entwicklung einer Visuellen Identität. Dies beinhaltet klassisch alles, das auf unserer Website und in unserer App von Bedeutung sein könnte (Logo, Bildwelten, Texte etc.). Ein Team von mindestens drei Personen (Programmierung, Design und Public Relations) ist erforderlich. Der Kunde bewegt sich im Bereich der Atomphysik und Nuklearer Astrophysik. Bisheriges Erscheinungsbild ist unten wir-machen-kernspaltung.de einsehbar.

 

Standardvoraussetzungen:

Wichtig zur Bearbeitung der Aufgabe ist die einzuhaltende Frist bis zum TT/MM/JJJJ - SS:MM UTC+1. Zwingend gegeben sein sollte, eine konstante Verbindung zum Internet, sowie ein eigener Arbeitsplatz ihrer Wahl. Der vom Unternehmen als bester Lösungsansatz angesehe Entwurf erhält die oben aufgeführte Prämie.

 

Epilog

 

Wie sich in nur zwei Minuten 143 Menschen auf eine einzige Aufgabe stürzen können, ist ihr ein Rätsel. Keineswegs technisch, da sie Server auf weitaus mehr ausgelegt sind, seit dem totalen Zusammenbruch des Systems vor vier Jahren. Doch wer sind wohl all diese Menschen, die um die Prämie buhlen? Kennt sie vielleicht welche von ihnen von dem dreitägigen Online Designseminar für Anfänger, das sie letzten Monat erfolgreich absolviert hat? Sie registriert sich, ohne den Beschreibungstext gelesen zu haben erst einmal unter der Rubrik Designerin und wartet auf kooperierende Teilnehmer, die sich nur kurz darauf per Chat Anfrage melden. Daraufhin beginnt sie „LOGO“ in die Suchmaschine für Vektorgrafiken zum freien Download einzugeben.

 

Montag, 12:25 Uhr UTC+1.

Auf dem Weg zum Apartment ihrer Eltern, wandert ihr Blick über den langen Flur vor ihr. An den Wänden des Korridors hängen die Wahlplakate des neuen Präsidentschaftskandidaten Phineas Howe, Sohn von Jeff Howe. Er hat in ihren Augen gute Chancen, das Amt antreten zu dürfen, um das Imperium seines Vater zu übernehmen. Ihm haben sie alle schließlich den Befreiungsschlag aus den Fesseln der Festanstellung zu verdanken.

 

Montag, 12:30 Uhr UTC+1.

Mittagessen mit ihren Eltern. Ihr Vater, 78, Lehrer, hat soeben auf Anfrage eines Auftraggebers, für den er mittlerweile seit stolzen zwei Wochen bereits vier Challenges lösen durfte, ein Online Tutorial mit dem Titel 5 Funky E-Learning Platforms for Your Education hochgeladen. Die Mutter, 81, trottet im selben Moment mit einer dreistöckigen Torte, welche über und über mit silber glitzernden Stevia- Kugeln verzieht ist, aus der Küche. Die Community hatte sich letzte Woche ein diesbezügliches Rezept von ihr gewünscht. Daraufhin hat sie die Bilder des Prozesses, begleitet von einem kurzen Beschreibungstext, direkt auf ihren Blog hochgeladen. Diese kleinen Aufgaben bringen den beiden ein bisschen Taschengeld ein, Hauptverdienerin ist dennoch die Tochter. Doch da die Eltern ihr Leben lang von den fixen Prämien der Plattformen, ohne Steuerabgaben gelebt haben, können sie sich das, was man früher als Ruhestand bezeichnete, nicht mehr leisten. Aber immerhin bleibt ihnen der tägliche Blick auf das Meer nicht verwehrt.